Krebszellen sind hungrig. Deswegen sind Tumore gut durchblutet – so können sie aggressiv wachsen. Wie gut ein Tumor durchblutet ist, zeigt an, ob und wie gut eine Therapie anschlägt. Das kann man sich vorstellen wie ein Straßennetz, in dem LKW Waren zu einzelnen Orten transportieren. Im Körper bilden die Blutgefäße die Straßen, über die wichtige „Lieferungen“ erfolgen: Über das Blut werden Sauerstoff, Medikamente Nährstoffe transportiert. Doch wie ein Straßennetz überall anders ist: es gibt krumme Gassen, Einbahnstraßen in verschiedene Richtungen. Manche Straßen sind verstopft. So sind auch die mikroskopischen Gefäßnetzwerke im Inneren des Tumors individuell verschieden von Person zu Person. Doch bislang fehlt es an klinisch einsetzbaren, kostengünstigen Verfahren, um den Blutfluss in einem Tumor präzise und nichtinvasiv zu analysieren.
Ein Forschungsprojekt der Technischen Universität Hamburg (TUHH) in Kooperation mit drei renommierten US-amerikanischen Einrichtungen – der Stanford University, der Mayo Clinic und der University of California, San Diego – will das ändern. Mithilfe von 4D-Ultraschallaufnahmen (räumlich und in der Zeit) sowie mathematischen Modellen entwickeln die Forschenden am Beispiel der Leber ein Verfahren, das eine schnelle quantitative Analyse von Tumorgefäßen ermöglicht – direkt am Patientenbett.
Vom Bild zur Diagnose: Ultraschall neu gedacht
Das Prinzip ist innovativ und pragmatisch zugleich. Mit einem modernen 3D-Ultraschallgerät werden zeitlich aufgelöste Aufnahmen erstellt. Diese dynamischen Bilddaten halten fest, wie ein Kontrastmittel durch das Tumorgebiet fließt. Daraus lassen sich Rückschlüsse auf Gefäßstruktur und Durchblutung ziehen. Gerade in der Leber, einem Organ mit besonders komplexem Blutfluss, führt das zu neuen Möglichkeiten für die Krebsdiagnostik und das sogenannte Treatment Monitoring. Das ist die Frage, ob eine bestimmte Therapie tatsächlich wirkt, oder ob lieber eine andere Vorgehensweise gewählt werden sollte.
„Die typischen Ultraschallbilder bieten visuelle Informationen. Was wir brauchen, sind Zahlen: Durchflussgeschwindigkeiten, Verteilungsparameter, konkrete Aussagen zur Gefäßstruktur“, sagt Dr. Sebastian Götschel, Senior Researcher am Institut für Mathematik der TU Hamburg. „Diese Informationen aus verrauschten, zeitlich und räumlich limitierten Bilddaten herauszuholen, ist anspruchsvoll. Doch genau das ist unser Ziel.“
Mathematische Modelle für die Medizin
Goetschel ist Mathematiker mit breiter anwendungsnaher Expertise. Vor seiner Zeit an der TU Hamburg arbeitete er am Zuse-Institut Berlin, promovierte an der FU Berlin und war am Lawrence Berkeley National Laboratory in Kalifornien tätig. Er ist Mitglied des Koordinationsteams der TUHH-Initiative Machine Learning in Engineering.
In dem aktuellen Projekt beschäftigt er sich mit einem sogenannten inversen Problem – einer der kniffligsten Klassen mathematischer Aufgaben. Aus bekannten Wirkungen wie der Helligkeit von Bildpunkten im Ultraschall soll auf unbekannte Ursachen wie beispielsweise die Blutflussgeschwindigkeit oder den Gefäßwiderstand geschlossen werden. Dazu braucht es Modelle, die nicht nur mathematisch lösbar, sondern auch physiologisch sinnvoll sind.
„Wir haben zuerst mit einem einfachen Diffusionsmodell gearbeitet“, erklärt Götschel. „Das war mathematisch ganz einfallsreich, aber physiologisch nicht überzeugend, weil Blut sich nun mal nicht einfach diffus verteilt.“ Stattdessen betrachtet das aktuelle Modell arterielles und venöses Blut getrennt. So entstehen zwei gekoppelte Gleichungen – eine für den Zufluss, eine für den Abfluss – deren Lösung eine aussagekräftige Kennzahl zur Durchblutung liefert.
Von der Maus zum Menschen: ein langer Weg
Die Methode wird zunächst an Tiermodellen erprobt und anschließend in präklinischen Studien validiert. Eine Patientenstudie soll 2029 abgeschlossen sein. Dabei werden die bildgebenden Daten mit Gewebeproben (Histologie) abgeglichen und mit weiteren Verfahren wie der Super-Resolution-Ultraschalltechnik (SRUS) kombiniert. Ziel ist es, ein Analyseverfahren zu entwickeln, das robust, zuverlässig und schnell genug ist, um es direkt in den klinischen Alltag zu integrieren – ohne aufwendige Großgeräte wie MRT oder CT. Diese sind teuer, nicht überall zugänglich, und CTs bringen zudem eine Strahlenbelastung mit sich.
„Ein Ultraschallgerät passt auf einen Rollwagen. Das ist ein riesiger Vorteil – gerade dort, wo Ressourcen knapp sind“, sagt Götschel. Auch die Rechenzeiten sollen im Rahmen bleiben: Eine leistungsfähige Workstation könnte innerhalb von rund einer Stunde aussagekräftige Ergebnisse zu liefern. Dafür wird parallel über viele Prozessorkerne hinweg gerechnet.
Wichtig ist zudem, dass die Ergebnisse erklärbar bleiben: „Wir brauchen Modelle, die wir verstehen, um zu wissen, dass die Ergebnisse glaubwürdig sind.“ Während neuronale Netze also künftig Teil der Lösung sein könnten, steht jetzt erst einmal die klassische Modellierung im Mittelpunkt.
Ein Hamburger Beitrag zur internationalen Spitzenforschung
Die TU Hamburg ist mit einem kompakten Team am Projekt beteiligt. Neben Götschel arbeiten ein Postdoktorand mit Schwerpunkt Computational Engineering sowie eine Doktorandin mit Fokus auf mathematischer Modellierung, Simulation und Optimierung an der Umsetzung. Gemeinsam mit den Partnern in den USA bilden sie eine interdisziplinäre Brücke zwischen Mathematik, Medizin, Physik und Ingenieurwissenschaften. Gefördert wird das Projekt über fünf Jahre mit insgesamt rund drei Millionen US-Dollar von den US-amerikanischen National Institutes of Health (NIH).
Für Götschel ist das Projekt die perfekte Verbindung seiner Interessen: „Ich finde es großartig, wenn ich mit meiner Arbeit konkret etwas bewirken kann. Mathematik ist oft sehr abstrakt. Manchmal forscht man jahrelang, und am Ende interessiert das weltweit nur wenige Fachleute. Hier ist das anders und wir sehen direkt, wofür unsere Arbeit gut ist.“